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PAID – Pflegeabrechnung in Deutschland

Wir bauen eine Programmbibliothek für die Abrechnung von Pflege-Dienstleistungen.

PAID ist eine freie Softwarekomponente für die digitale Abrechnung von Pflege-Dienstleistungen mit den Pflege- und Krankenkassen.

Eine freie Softwarekomponente für die digitale Abrechnung von Pflege-Dienstleistungen mit den Pflegekassen (§ 105 SGB XI) und Krankenkassen (§ 302 SGB V).

Pflegekräfte in der Pandemie

Frühjahr 2020: Die Pandemie ist bereits in vollem Gange und omnipräsent in den Medien, zuerst mit Bildern aus China, später auch aus Europa. Unter dem Eindruck der prekären Lage in italienischen Krankenhäusern wird schließlich in Deutschland der erste Lockdown verhängt.

Noch in der Hoffnung, die Pandemie könne nach ein paar Monaten solcher Maßnahmen vorüber sein, ist die Sympathie mit den Arbeiter*innen unseres Gesundheitswesens groß. Wochenlang gibt es mancherorts von Balkonen und Fenstern Applaus als Wertschätzung für die Leistungen der Pflegekräfte.

Damit rücken auch die extreme Personalknappheit, schlechte Bezahlung und prekären Arbeitsbedingungen derselben in die öffentliche Aufmerksamkeit. Politiker*innen versprechen Verbesserungen, doch Einmalzahlungen lösen die Probleme nicht und von Lohnerhöhungen im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst profitiert nur ein kleiner Teil der Pflegekräfte. Ein Sketch der Anstalt erklärt die Fragmentierung des Tarifsystems auf anschauliche Weise.

Durch politische Entscheidungen ist in den vergangenen Jahren ein Pflege- und Gesundheitssystem gewachsen, dessen rechtliche Komplexität heute kaum noch handhabbar erscheint und zu den unattraktiven Arbeitsbedingungen und fatalen Defiziten in der Pflegequalität maßgeblich beiträgt. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers, aber auch der Vertragspartner*innen der Pflege-Rahmenverträge, Vergütungsvereinbarungen und Tarifverträge diese Komplexität zu reduzieren.

Wenn Pflegekräfte neue Wege gehen

Gleichzeitig gibt es eine wachsende Zahl von Pflegekräften in meist ambulanten Pflegediensten, die die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und damit gleichzeitig die Qualität der Pflege selbst in die Hand nehmen, soweit es unter den schwierigen Rahmenbedingungen möglich ist. Denn was gut für Pflegekräfte ist, hilft auch den Pflegebedürftigen. Mehrere Ziele werden dabei zu einem ganzheitlichen Ansatz verknüpft. Dazu gehören

Dieses Gesamtkonzept verbessert die Attraktivität des Pflegeberufs spürbar. Letztlich geht es darum, Komplexität und Bürokratie durch einfache und funktionierende Lösungen zu ersetzen, wo immer es möglich ist. Vorbild ist der Pflegedienstleister Buurtzorg aus den Niederlanden, der seit 15 Jahren mit diesem Konzept erfolgreich vormacht, wie das funktionieren kann:

Unterstützende Softwarelösungen für innovative Pflege

Die Umsetzung dieses ganzheitlichen Ansatzes ist in Deutschland noch eine Herausforderung, besonders diese beiden externen Faktoren: Die Verhandlung von wirtschaftlichen Stundensätzen für die Zeitabrechnung sowie eine Software zu finden, die dieses Pflegekonzept verinnerlicht hat.

Die erste und bisher einzige Software in Deutschland mit diesem Anspruch ist die Omaha-System-basierte App CoopCare. CoopCare wurde in einer vergangenen Runde des Prototype Fund gefördert, unterstützt die kooperative Selbstorganisation von Pflege-Teams und ist natürlich freie Software. Es gibt eine Demo zum Ausprobieren der App. Bisher fehlte jedoch die Möglichkeit, die dokumentierten Pflegemaßnahmen auch mit den Pflege- und Krankenkassen als Kostenträger abrechnen zu können.

Zwei Screenshots der auf dem Omaha-System basierenden App CoopCare für Smartphone und Tablet

Daher sind Pflegedienste momentan aufgrund der rechtlichen und technischen Komplexität bei der Abrechnung dazu gezwungen, auf proprietäre Software und/oder die Dienstleistungen von externen Abrechnungszentren zurückzugreifen, die ihnen die Abrechnung abnehmen oder erleichtern, entsprechend aber natürlich auch für ihre Dienste bezahlt werden wollen. Wer selbst abrechnen kann, spart hier Kosten.

PAID ist nun eine Softwarekomponente, die die technische Komplexität bei der Abrechnung von Pflegedienstleistungen kapselt und als Modul in Pflegesoftware eingebunden werden kann. Durch die Integration von PAID in CoopCare werden selbstorganisierte Pflegeteams in der Lage sein, ihre gemäß dem Omaha-System dokumentierten Leistungen mit den Kostenträgern im Datenträgeraustauschverfahren (DTA) abzurechnen.

Gleichzeitig soll diese Open-Source-Lösung die Entwicklung zukünftiger innovativer Pflege-Software durch geringeren Implementationsaufwand erleichtern. Unser langfristiges Ziel ist, Pflegekräften mehr Unabhängigkeit beim Auswählen geeigneter Software zu ermöglichen, die sie im Alltag zeitlich entlastet, und gleichzeitig Open-Source-Lösungen als vollwertige und erweiterbare Alternativen im Gesundheitswesen zu stärken.

PAID ist freie Software und daher außerdem grundsätzlich für weitere Leistungserbringer im öffentlichen Gesundheitswesen erweiterbar.

Bürokratie im Gesundheitswesen von Pflegekräften fernhalten

Die technische Implementation ist unter anderem deswegen so komplex, weil es nicht nur eine gesetzliche Krankenkasse gibt, sondern über hundert. Es gibt weder ein zentrales Programm über das die Rechnungen eingetragen werden können, wie es etwa bei Steuererklärungen der Fall ist (Elster), noch gibt es eine zentrale Schnittstelle, an die die Rechnungen übermittelt werden können.

Jede Krankenkasse, wie etwa die „AOK Cuxhaven“, kann individuell nicht nur die Übertragungsmethode bestimmen sondern auch darüber, welche Einzelleistungen jeweils über Rechnungen bei welcher Drittstelle einzureichen sind. Allein dies birgt eine gewisse Komplexität.

Ein Screenshot vom Inhalt einer Kostenträgerdatei im Edifact-Dateiformat mit Kontaktdaten und Zuständigkeiten aller Kassen und Datenannahmestellen

Erschwerend kommt hinzu, dass der Programmcode für die Rechnungserstellung doppelt programmiert werden muss: Einmal für die Abrechnung mit den Pflegekassen gemäß § 105 SGB XI und einmal mit den Krankenkassen nach § 302 SGB V, deren Systematik sich erheblich unterscheidet. Im Pflegealltag gehen die Tätigkeiten von SGB XI und SGB V zwar oftmals fließend ineinander über, doch für die Abrechnung müssen sie strikt getrennt erfasst und übermittelt werden.

Erstaunt waren wir aber vor allem darüber, wie bürokratisch die Abrechnung von Pflegedienstleistungen tatsächlich gestaltet ist, unabhängig von der technischen Komplexität. Eine Steuererklärung als Angestellte*r ist dagegen ein Kindergeburtstag.

Die Abrechnung erfolgt in der Regel nicht nach Zeitaufwand, sondern nach Einzelleistungen, die jeweils einzeln pro pflegebedürftiger Person pro Hausbesuch aufgelistet werden müssen. Bei häuslicher Krankenpflege nach SGB V können das unter anderem kleinteilige Leistungen wie „Eisbeutel verabreichen“, „Spülen des Geschirrs etc.” oder „Kompressionsstrümpfe anziehen ab Klasse I an drei Extremitäten“ sein sowie Dutzende mögliche Abzüge und Zuschläge. Insgesamt gibt es allein für den Bereich der häuslichen Krankenpflege über eintausend solch definierter Einzelposten.

Bei Pflege nach SGB XI handelt es sich in der Regel um Leistungskomplexe wie „Große Körperpflege”. Diese beinhaltet den Transfer ins Bett und aus dem Bett, Ausziehen, Waschen/Duschen/Baden, Hautpflege, Kämmen, Rasieren, Anziehen, Mund- und Zahnpflege samt Zahnprothesen und Bett machen. Für alle diese Vorgänge zusammen samt Dokumentation werden 38 Minuten veranschlagt bei einer Vergütung in der Größenordnung von 28,37 € für eine Fachkraft oder 19,45 € für eine Hilfskraft. Dauert es länger, wird es angesichts der Lohn-, Verwaltungs- und Sachkosten schnell unwirtschaftlich für den Pflegedienst.

Die Zeitvorgabe von 38 Minuten mag für einen fitten Menschen machbar sein, für einen gebrechlichen Menschen ist sie es trotz Unterstützung nicht und erst recht nicht bei unvorhergesehenen Ereignissen. Wie dieser Zeit- und Kostendruck Qualitätsmängel und emotionalen Stress auslöst, kann sich wohl jede*r vorstellen. Dieses Abrechnungsmodell basiert auf einer neotayloristischen Ideologie, als wäre Pflegearbeit standardisierbar wie Massenfertigung am Fließband, und mit einem Tunnelblick auf die körperliche Tätigkeit. In Wirklichkeit ist Pflege in erster Linie Beziehungsarbeit, bei der kommunikativ und mit Empathie wechselseitiges Vertrauen aufgebaut wird. Außerdem ist sie Wissensarbeit und umfasst Beobachtung und Evaluation, Anleitung, Beratung und Fallmanagement. Diese Aspekte wurden zu lange übersehen.

Mit dieser sogenannten leistungsorientierten Vergütung lässt sich im Gesundheitswesen keine Effizienz, geschweige denn Qualität verbessern, deshalb braucht es eine bedarfsorientierte Vergütung. Diese Erkenntnis dürfte mittlerweile den meisten Akteur*innen klar sein. Und so kann in einigen Bundesländern bereits die effizientere Abrechnung nach Zeitaufwand vereinbart werden. Allerdings scheitert die Umsetzung noch zu oft daran, dass die verhandelten Stundensätze niedriger ausfallen im Vergleich zu den Leistungskomplexen, so dass die Zeitabrechnung für Pflegeeinrichtungen unwirtschaftlich wäre und alles beim alten System bleibt. Für die einzelne Pflegekraft würde ein niedrigerer Stundensatz noch mehr Arbeit für das gleiche Geld bedeuten, sofern die*der Arbeitgeber*in diese Differenz nicht übernimmt – das Gegenteil von dem, was wir brauchen und erreichen wollen.

Vertrauen aufbauen in die Wirksamkeit der Pflege

Ursächlich für diese Benachteiligung der Zeitabrechnung dürfte ein Mangel an Vertrauen sein. Die naheliegenden Befürchtungen sind Fragen wie: Was, wenn die Kosten für Pflege explodieren, weil Pflegekräfte sich zu viel Zeit lassen? Nun, das Budget für einen Pflegefall ist normalerweise ohnehin gedeckelt, abhängig vom Pflegegrad – mehr abrechnen mit der Kasse geht nicht.

Dann also umgekehrt: Was, wenn Pflegekräfte für dieses Budget zu wenig leisten und in der Folge die Qualität sinkt? Nun, wer sich für einen Pflegeberuf entscheidet, will sein Bestes geben, um Menschen helfen. Darauf können wir in der Regel vertrauen. Gleichzeitig werden die Arbeitszeiten weiterhin nachgewiesen und es gibt weiterhin eine Pflegeplanung, die dem Bedarf des pflegebedürftigen Menschen entspricht und bewilligt wird. Man müsste nur irgendwie die Pflegequalität objektiv nachweisen.

Es läuft also auf den Nachweis der Wirksamkeit der Pflege gegenüber den Kostenträgern hinaus. Genau dafür ist das Omaha-System prädestiniert: Mit seiner quantifizierbaren Evaluation macht es die Verbesserung von Gesundheit und Selbständigkeit messbar und die erfolgversprechendsten Pflegemaßnahmen sichtbar. Damit hätten wir ein System, bei dem es nicht mehr darum geht sämtliche Einzelleistungen zu kontrollieren, sondern stattdessen den Erfolg transparent zu belegen. Auf welchem Weg der Erfolg erreicht wird, entscheidet der pflegebedürftige Mensch auf der Grundlage der Beratung durch die Pflegekraft selbst.

Bei Wissensarbeit wird größere Effizienz vor allem durch Vertrauen gefördert; Kontrolle bewirkt dagegen das Gegenteil. Durch die Förderung der Selbständigkeit des Pflegebedürftigen und dem Aufbau eines Unterstützungssystems durch Freund*innen und Verwandte, übernimmt die Pflegekraft öfter die Rolle eines*r Trainers*in und Fallmanagers*in und arbeitet letztlich darauf hin, sich überflüssig zu machen. Das wird nicht immer möglich sein, etwa bei degenerativen Erkrankungen und Pflege am Lebensende. Im Durchschnitt wird dieser Ansatz dennoch zu erheblichen Kosteneinsparungen für die Kassen führen. Eine Zeitvergütung nach diesen Prinzipien sollte deshalb sogar besser bezahlt werden als Leistungskomplexvergütung.

Dass dieser ganzheitliche Ansatz funktioniert und sowohl die Arbeitsbedingungen im Pflegeberuf entscheidend verbessert, als auch die Qualität der Pflege steigert und gleichzeitig die Kosten deutlich senkt, hat der Pflegedienst Buurtzorg in den Niederlanden bewiesen. Die Zeit ist reif, dass wir diesen Beweis auch in Deutschland erbringen und das System verändern!

Wir möchten uns beim DLR und dem BMBF für die Förderung und Unterstützung während der Förderzeit bedanken.